DHH Online Seminar Schluckstörung
bei Morbus Huntington
- Praktischer Umgang -
06. März 2021, Itzehoe
von
Christoffer Kern, Klinischer Logopäde
- Praxis KERN, Therapeutikum für Dysphagie & Logopädie, Hypnose Coaching & Psychologische Beratung in Itzehoe
- DysphagiaReha, Privates Dysphagiezentrum in Itzehoe
Der nachfolgende Artikel ist eine inhaltliche Zusammenfassung vom Online Seminar Schluckstörung der Deutschen Huntington Hilfe e.V. (DHH). Dieser Fachdiskurs basiert auf aktuellen theoretischen, praktischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen und stellt einen Auszug aus dem Konzept der Klinischen Dysphagietherapie nach Kern dar.
Gliederung
- Einleitung
- Einführung Schlucksystem
- Bedeutung der Logopädie
- Einführung Schluckstörung (Dysphagie)
- Gibt es die „Huntington Dysphagie“?
- Einführung orale Kostformadaption
- Einführung Aspiration und Aspirationspneumonie
- Evidenz und Neurorehabilitation
- Freier Diskurs
Einleitung
In der Schlucktherapie gilt der Grundsatz Prävention vor Rehabilitation. Aus der Perspektive unserer Patienten, empfehlen wir Schlucktherapeuten manchmal nicht immer das Beste für Sie, aber glauben Sie mir, wir versuchen stets das sicherste Handling für Sie im Umgang mit der Schluckstörung zu schaffen. Seit nunmehr 13 Jahren habe ich schwerpunktmäßig in meiner Tätigkeit mit der Huntington Krankheit zu tun. Die erste wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Huntington Krankheit und Schluckstörungen hatte ich als Referent im Jahr 2010 auf dem 4. Bielefelder Dysphagie Symposium (Die Behandlung neurodegenerativer Dysphagie bei Morbus Huntington). Auf dem Jubiläum in Heiligenhafen, 20 Jahre Huntington Zentrum Nord, habe ich einen Gastvortrag zu Dysphagie bei der HK gehalten, 2018.
In all dieser Zeit habe ich eins gelernt, alles hat seine Zeit und mit jeder Stellungnahme zu diesem Thema schaffen wir ein wenig mehr Transparenz.
Einführung Schlucksystem
Schlucken ist ein hochdifferenziertes Multitasking System bestehend aus Wahrnehmungs-, Verarbeitungs-, willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungs- , Reflex- und Geistesprozessen. Somit regelt diese Funktion und Fähigkeit eine Gewährleistung für die sichere Aufnahme der Ernährung von Essen und Trinken, sowie die Regulierung des Speichelschluckens. Kurzerhand gesagt, eine echte körpereigene Primärfunktion Plus.
Aber damit noch nicht genug, dass Plus bezieht sich auch auf die psychische, emotionale und soziale Verbundenheit, die durch die orale Nahrungsaufnahme von Essen und Trinken direkt und indirekt bestimmt wird - der gesellschaftliche und kulturelle Kontext.
Schon von Anbeginn unserer Zeit, bestimmt die orale Nahrungsaufnahme, einen wichtigen Aspekt des menschlichen Zusammenlebens. Wir werfen einen Rückblick in die Vergangenheit, die Jäger, Sammler und Fischer begingen die Suche nach Nahrung zusammen und sie gastierten auch zusammen beim gemeinsamen Essen und Trinken. Auch heute noch, werden Festlichkeiten nahezu immer mit einem gemeinsamen Akt der oralen Nahrungsaufnahme ausgerichtet.
Bei genauer Betrachtung des Vorgangs der oralen Nahrungsaufnahme von Essen und Trinken wird schnell deutlich, dass es sich hierbei um mehr handeln muss, als einen bloßen Schluckreflex.
Wir skizzieren und kommunizieren einmal, den vereinfachten Ablauf im Schluckvorgang.
- Prä - Mundphase: Selektive Nahrungsquelle wird ausgewählt und eingeführt (Augen, Hände, Nase, Mund)
- Mundphase/Einatmung: Unterscheidung über Ess- oder Trinkmuster, Selektion Pro oder Contra, zerkleinern, einspeicheln, transportieren, Boluspassage wird eingeleitet
- Ausatmung
- Atemstopp/ Kehlkopfverschluss
- Schluckreflextriggerung
- Rachenphase: Bolus durchwandert und passiert am verschlossenen Kehlkopf vorbei hin zum oberen Schließmuskel der Speiseröhre
- Erste Speiseröhrenphase: Bolus wandert ein und passiert die Speiseröhre in Richtung Magenphase / Parallel dazu öffnet sich der Kehlkopf und es beginnt zunächst eine kurze Ausatmung, um mögliche Nahrungsreste (Residuen) aufzuspüren.
- Einatmung
- Magenphase: Bolus durchwandert den unteren Schließmuskel der Speiseröhre und betritt den Magenbereich
Exkurs: Autonomes Schlucken vs. bewusstes Schlucken
Die Frage nach geeigneten Schluckübungen stellen sich oftmals, jedoch sei erwähnt, dass infolge der HK die Planung und Umsetzung willkürlicher Bewegungsprozesse reduziert ist. Daraufhin muss primär mit konkreten sensorischen und motorischen Reizen gearbeitet werden.
Wenn der Patient zu wenig sensorische Reize erhält, dann optimieren wir in der Schlucktherapie kontrolliert die sensorische Reizdichte.
Wenn der Patient zu wenig Bewegungsimpulse in der oralen Phase (Mundphase) umsetzen kann, dann optimieren wir kontrolliert die Bewegungsrate des Bolus und stellen auf den Trink -Schluck um.
Wenn der Patient zu wenig Haltungskontrolle im Schlucktrakt und Schluckakt hat, dann verschieben wir die physiologische Haltungskontrolle zum Wohle der Kompensation und stellen zwar ein Ungleichgewicht in der Haltungskontrolle dar, bedingen aber nachhaltig eine gute Kompensation im Schluckvorgang.
Die sogenannte Atem - Schluckkopplung beschreibt den so wichtigen Funktionskreislauf zwischen diesen beiden Primärsystemen.
- Einatmung
- Einleitung Schluckvorgang
- Ausatmung
- Atemstopp
- Schluckreflex
- Kurze Ausatmung
- Einatmung
Somit regelt und reguliert der Schluckvorgang/Schluckreflex neurophysiologisch bedeutsam das Atmungssystem. Im Umkehrschluss ist dieser wichtige Verbund aus Atmung und Schlucken essenziell entscheidend für ein erfolgreiches Schluckerlebnis.
Bedeutung der Logopädie
Die Logopädie ist eine medizinisch - therapeutische Fachdisziplin und beinhaltet die Behandlungskunde von Schluck-, Sprach-, Sprech-, Atmungs- und Hörstörungen im Kindes- und Erwachsenenalter.
Die Logopädie deckt somit ein großes Behandlungsspektrum ab und selten ist es der Fall, dass alle Störungsbilder mit gleicher Fach - und Expertenkunde beherrscht werden können. Daher empfiehlt sich für die Behandlung von Schluckstörungen, einen gezielt weitergebildeten und zertifizierten Fachtherapeuten für Schluckstörungen/Dysphagie zu suchen. Jedoch zeigt eine aktuelle Umschau, dass sich leider bis dato nur wenige zertifizierte Fachtherapeuten für Dysphagie wiederfinden lassen.
Die Rolle der Logopädie in der Therapieheilkunde von Schluckstörungen ist eminent groß und sollte schon in der Frühphase der Erkrankung beginnen.
Zusammen mit ihrem Therapeuten erstellen Sie dann einen individuellen Therapieplan. Ein ganz wichtiger und vertrauensvoller Aspekt - seien Sie offen für neue Chancen!
Einführung Schluckstörung (Dysphagie)
Quod me nutrit me destruit, eine Schluckstörung offenbart immer Folgen. Diese können akute und/oder chronische Gesundheitsgefährdungen bedingen.
Eine unbekannte und unbehandelte Dysphagie, stellt ein hohes Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko für die Patienten dar (Corrie E. Erasmus et al. 2011).
Quasi ist der Faktor Dysphagie, ein entscheidendes Zünglein an der Waage und beeinflusst stark den weiteren Verlauf in einem Rehabilitationsprozess.
Eine Dysphagie bezeichnet nun den Umstand einer Störung hinsichtlich der Fähigkeit der extrasensorischen Selektion von Nahrung und/oder der sicheren oralen sensomotorischen Nahrungsaufnahme und/oder der anschließenden effektiv - semireflektorischen Schluckfähigkeit und/oder der Atemschutzfunktion.
Dabei können einzelne wie auch mehrere Phasen in unterschiedlicher Gewichtung betroffen sein.
Die schwerste Form wird als Aphagie verstanden.
Differenzierte Betrachtung steht für einen Zugewinn an Therapieverständnis.
Eine Dysphagie hat viele Symptome und dennoch ist es eine Dysphagie mit einem Hauptschwerpunkt und vielen Nebensymptomen.
Merke: Hier sind einige mögliche Optionen aufgeführt, diese Praktiken ersetzen keinen klinisch - logopädischen Befundstatus zum Schlucken.
- Dominante präorale Dysphagie, infolge der Störung im Ess - Sinn - Verständnis (Nomenklatur aus der F.O.T.T. nach Kay Coombes) übernommen, reichen wir dem Patienten kontrolliert das Essen und Trinken an.
- Dominante orale Dysphagie, infolge der Störung einer Zungenprotrusion (Zungenvorschub), kann der Ess - Schluck nicht mehr gelingen, daher stellen wir auf den den Trink - Schluck um.
- Dominante pharyngeale Dysphagie, infolge der Störung unternehmen wir zwingend notwendig eine orale Kostformadaption.
- Dominante laryngeale Dysphagie, infolge der Störung gilt ein absolutes Risiko für Oralisierung, es ist dringend eine logopädische Vorstellung erbeten.
- Dominante ösophageale Dysphagie, infolge der Störung sollte ein präventives Lagerungsmanagement eingeleitet werden. Zudem kann eine Odynophagie bestehen.
Gibt es die „Huntington Dysphagie“?
"Der gute Arzt behandelt Krankheiten, der sehr gute Arzt Patienten mit Krankheiten" (William Osler, kanadischer Mediziner 1849 - 1919).
In diesem Sinne und aus diesem Anspruch heraus, sollte eine jede Behandlung so realisiert werden.
Die Huntington Erkrankung zeichnet sich durch multilokale Entzündungsprozesse im Gehirn aus.
In der Schlucktherapie bei der HK kristallisieren sich zwei Störungsdomänen heraus, zum einen sehen wir bei einem Teil der Patienten eher eine Störung in der Hand-Mundphase und Mundphase, am ehesten begünstigt durch dominante linkshemisphärische Entzündungsläsionen im Gehirn, während andere Patienten vornehm in der Rachenphase betroffen sind und somit eher unter rechtshemisphärischen Läsionen zu leiden haben. Für letztere gilt ein höheres Risiko für Penetration und Aspiration (Suntrup et al. 2015) und Pneumonien (Kemmling et al. 2013).
Aufgrund dieser Geschehnisse zeigt eine deskriptive Studie, die fortlaufend weitergeführt wird, dass die ganzkörperliche motorische Verfassung des Patienten mit der HK kein Indiz für den Schweregrad der Dysphagie sein kann, denn schon zu einem frühen Erkrankungsbeginn und einer gut erhaltenen Ganzkörperlichkeit, können schwere Schluckstörungen auf Rachenebene (Pharyngeale Dysphagie) herrühren (Kern 2018).
Gibt es also eine Huntington Dysphagie - Nein!
Jede Dysphagie ist individualorientiert zu betrachten, zwar ähneln sich bei den verschiedenen Grunderkrankungen mitunter die Symptome, jedoch lassen sich immer nur bedingt Therapiebausteine von einem Patienten auf den anderen Patienten hin transferieren.
Eine Behandlung im Schema F - Design hat wenig Aussicht auf Behandlungserfolg und käme wohl eher einem IKEA Baukastenprinzip gleich. Falls man sich doch für eine Schablonentherapie entscheidet, begünstigt man so direkt das Voranschreiten der Erkrankung. Eine Erklärung hierfür liegt in dem neurophysiologischen Grundsatz selbst "If you don´t use it, you will lose it", frei nach dem Motto, was dein Gehirn nicht gebraucht, wird es vergessen/verlernen.
Einführung orale Kostadaption
Eine adäquate Anpassung der Nahrung als ein wesentlicher Garant für ein gutes Gesundheitserlebnis von Schluckpatienten ist essenziell bedeutsam, zu diesem Konsens kommt auch die Europäische Gesellschaft für Schluckstörungen (ESSD - Newman, R., et al. Dysphagia, 2016).
Die Dysphagia – Nutrition – Scale/DNS (nach Kern 2019) setzt hier an.
Die DNS ist ein klinisch – schlucktherapeutisches Assessment, dass zum einen für die Erhebung und Beurteilung des Schweregrades der oropharyngealen Dysphagie dient und zum anderen eine kontrollierte orale Kostformbelastung für Ess – Speisen und Getränke darstellt.
Dieses Assessment beinhaltet eine valide, reliable und subjektiviert – objektive Erhebungsstruktur, damit lassen sich durchaus Ableitungen für einen Standard in Diagnostik und Therapie von Schluckstörungen generieren.
Die Indikation umfasst ein breites Spektrum, vom kontrollierten oralen Kostaufbau (z.B. nach Schlaganfall) bis hin zur kontrollierten oralen Kostausschleichung (z.B. bei neurogenerativen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Morbus Huntington, Multiple Sklerose usw.).
So unterscheiden wir in der Schluckfunktion und Schluckfähigkeit zwischen dem Ess - Schluck und dem Trink - Schluck in der oralen Nahrungsaufnahme.
Einführung Aspiration und Aspirationspneumonie
In jedem System kann es zu Fehlern kommen, dies gilt auch für das Schlucksystem. Im Resultat bedeutet dies, dass man sich verschluckt (an Essen, Getränke, Speichel), ein jeder hat dieses Phänomen schon erfahren. Bei Patienten mit Schluckstörungen tritt dieses Phänomen gehäuft auf, so das wir eher von einer Symptomatik sprechen als von einem Phänomen.
Beim Verschlucken gelangt also ein Bolus, Speichel oder Fremdkörper in den Eingang des Kehlkopfs (eine sogenannte Penetration), infolge dessen kann die Luftpassage der oberen Luftwege behindert werden. Die dort ansässigen Hustenrezeptoren spüren diesen Fremdreiz im Idealfall auf und wir Husten/Räuspern uns frei. Falls dies nicht geschieht und dieser Zustand sich weiter abwärts bewegt in Richtung Luftröhre, ist Eile geboten, denn es droht ein Fremdkörper in die unteren Atemwege zu gelangen (eine sogenannte Aspiration). Auch hier befinden sich Hustenrezeptoren. Im Idealfall gilt die Rachenreinigung als effektiv. Zu diesem Zeitpunkt sollte dem Patienten dringend unterstützend geholfen werden und erste Rettungsmanöver eingeleitet werden.
Eine Aspirationspneumonie ist der Folgezustand einer verhängnisvollen Kaskade an Ereignissen. Die Entzündung der Lunge hat schwerwiegende Auswirkungen für den weiteren gesundheitlichen Fortgang.
Evidenz und Neurorehabilitation
- Ansatz zum provozierten Übergewicht, in einer Studie wurde festgestellt, dass sich die Einlagerung von Fett nicht nur im Bauchraum anfinden lässt, sondern das sich das Fett auch in den Wänden der Bronchien ablagert. Somit werden die Atemwege organisch - funktionell verengt, dadurch nimmt die Belüftung des Tracheobronchialsystems ab und Entzündungsprozesse der Lunge mit weiteren Erkrankungen wie Asthma und COPD sind möglich (Elliot, John G., et al. European Respiratory Journal, 2019).
Im weiteren Verständnis birgt eine Reduktion der Lungenfunktion gleichzeitig auch eine Reduktion der Atemschutzfunktionen und lässt das Risiko für akute und/oder chronische Gesundheitsgefährdung unmittelbar ansteigen.
- Prophylaktische Gabe von Antibiotika zur Verhinderung einer Aspirationspneumonie, in einer Studie wurde festgestellt, dass eine prophylaktische Gabe von Antibiotika, eine Aspirationspneumonie nicht verhindert (Kalra L. et al., 2015).
- Mundpflege und Mundhygiene sind wichtige Präventionsmaßnahmen, denn in einer Studie konnte untermauert werden, dass Mundpflege das Risiko für eine Aspirationspneumonie signifikant verringert (Kaneoka et at. 2015)
- Orale Mangelernährung und medikamentös bedingte Intoxikationen, wenn Patienten infolge der Dysphagie eine deutliche reduzierte Nahrungs - und Flüssigkeitsaufnahme erleiden, dann muss direkte Rücksprache mit dem Arzt gehalten werden, um die Medikamente mit dem aktuellen Bedarf auszubalancieren. Erfolgt dies nicht, droht eine massive Eskalation des Gesundheitszustandes mit infauster Prognose (ungünstiger Verlauf).
Freier Diskurs
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und bleiben Sie bei bester Gesundheit.
Wenn Sie eine Frage haben, dann kontaktieren Sie uns gerne, wir helfen Ihnen gerne weiter.